Briefe an den Arbeiterbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler
5. Brief zum 13. Juli
Lieber Bischof von Ketteler,
Der Mönchsvater Johannes Klimakos spricht in einem seiner Werke von der „Fühllosigkeit“ als der Wurzel und dem Anfang aller Verfehlungen und Sünden der Menschen. Könnte es nicht sein, dass es sich mit der „Sprachlosigkeit“ ähnlich verhält? Zumindest wenn diese Ausdruck einer fehlenden Sensibilität für Entwicklungen und Geschehnisse ist, die uns als glaubende Menschen doch eigentlich aufwühlen und aufschreien lassen müssten. Eine Kirche, die wirklich bei den Menschen der Gegenwart verortet sein will, muss für deren Sorgen und Nöte ansprechbar und im wahrsten Sinn des Wortes ansprechend sein.
In meiner Zeit, lieber Herr Bischof, gelten Einzelpersonen und Institutionen vor allem dann als ansprechend, wenn sie authentisch sind. Das heißt, wenn sie überzeugend und nachvollziehbar für die ihnen wichtigen Werte eintreten. Nehmen Sie den Schutz des freien Sonntags. Am 25. Juli 1869 hatten Sie sich auf der Liebfrauenheide bei Offenbach in einer Ansprache vor 10.000 Menschen nicht nur für Lohnerhöhungen, das Verbot von Kinderarbeit und das Streikrecht, sondern auch für einen freien Sonntag eingesetzt. Ihnen ist es im Wesentlichen mit zu verdanken, wenn Jahrzehnte später der Sonntag sogar durch die Verfassung geschützt wurde und bis heute durch das Grundgesetz geschützt wird. Heute zeigt die Kirche in dieser wichtigen Frage leider nicht mehr die erforderliche „klare Kante“. Vor dem Hintergrund des durch die Geschäftsschließungen während der Corona-Pandemie eingebrochenen Umsatzes im Einzelhandel sehen nun auch wichtige kirchliche Repräsentanten in zusätzlichen Sonntagsöffnungen ein „wirtschaftliches Heilmittel“. Die Rechnung dafür bezahlen aber jene, deren Rechte Ihnen, sehr geehrter Bischof Ketteler, ein Herzensanliegen waren. Den kleinen Angestellten im Verkaufs- und Kassenbereich wird durch Konzessionen dieser Art mehr und mehr der Sonntag als Erholungs- und Familientag genommen. Und dies, wo bislang zusätzliche Sonntagsöffnungen aufs Ganze gesehen keine wesentlichen Umsatzsteigerungen gebracht haben. Doch, selbst wenn dies der Fall wäre, wäre der Wegfall des Sonntags als wirklicher Ruhetag ein viel zu hoher Preis.
Es tut mir leid, dies Ihnen heute, da sich Ihr Todestag zum 143. Mal jährt, schreiben zu müssen. Lassen Sie mich daher zum Schluss auf die wohl wichtigste Botschaft schauen, die Sie für die KAB, ja für die katholische Kirche in Deutschland als ganze haben. Es ist die Aufforderung zur Rückbesinnung auf die die Sprache des Lebens und Wirkens Jesu Christi. In einer Ihrer berühmt gewordenen Adventspredigten am Ende des von Gewalt, von staatlicher Repression und grassierendem sozialen Elend geprägten Jahres 1848 bringen das Wesen dieser „Universalsprache“ auf den Punkt:
„Wenn Jesus Christus sich durch die Größe unseres Elendes nicht abhalten ließ, sich vom Himmel zu uns herabzulassen, so sollen auch wir, wenn wir Christen sind, dort hineilen, wo die Not am größten ist."
Es ist die Sprache christlich sozialen Handelns. Ich bitte Sie inständig: helfen Sie uns, dass wir diese Sprache wieder und dann noch besser lernen. Seien Sie unser Sprachlehrer! Helfen Sie uns aus der Sprachlosigkeit.
Ihnen mehr denn je herzlich verbunden,
Stefan-B. Eirich